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... in unterhaltsamen Kurzgeschichten, Gedichten u.a.

Zwei Wölfe

Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer.
Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten.
Der Alte sagte nach einer Weile des Schweigens:

„Weißt du, wie ich mich manchmal fühle?
Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden.
Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam.
Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.“

„Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?“ fragte der Junge.

„Der Wolf, den ich füttere“, antwortete der Alte.

Autor unbekannt

wolf

Alles hat seine Zeit

Ein jegliches hat seine Zeit,
Und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit,
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit,
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

Prediger Salomo
Prediger 3,1-8

hourglass

Das Fünfmeter-Brett

Du stehst im Schwimmbad auf dem Fünfmeter-Brett.
Zum ersten Mal in deinem Leben. Du schaust in den Abgrund.
Dein Kopf sagt: ´Es kann nichts passieren´.

Aber dein Herz schlägt bis zum Hals, alles zieht sich zusammen.

Und jetzt?

Du könntest dir alles noch einmal überlegen, das Pro und das Contra abwägen.
Du könntest einen Freund oder eine Freundin nach oben rufen und dir ganz viel Mut zusprechen lassen – und du wirst trotzdem auf jeden Mutmacher ein „Aber“ entgegnen.
Oder du bittest den Freund, er soll dich schupsen – aber nur, wenn du es wirklich willst, also nie.
Vielleicht brauchst du auch noch etwas Zeit – und wirst dann da oben stehen, Stunde um Stunde.

Du könntest die Treppen dieses Mal hinuntersteigen und es ein andermal noch mal probieren – und wieder und wieder. Oder du steigst nie mehr hinauf.

Oder du springst.

Dirk Klute

tower

Sprachlos

Jedes Wort des anderen wurde als Beschuldigung aufgefasst,
jede Rechtfertigung wurde als Vorwurf verstanden.
Zwischen den Ehepartnern schien jede Verständigung unmöglich zu sein.
Deshalb sprachen sie nicht mehr miteinander und hatten sich darauf beschränkt, sich nur noch schriftlich mitzuteilen.

„Weck mich morgen früh um sieben!“
hatte er auf einen Zettel geschrieben und seiner Frau hingelegt.

Als er aufwachte, war es halb Neun.
Entsetzt sprang er aus dem Bett und der Luftzug wehte ihm einen Zettel vom Nachttisch, auf dem stand:
„Sieben Uhr. Steh auf, es ist Zeit“.

Jetzt üben sie, wieder miteinander zu sprechen.

Norbert  Lechleitner

silent

Enttäuschender Engel

Ein junger Mann betrat im Traum einen Laden.
Hinter der Theke stand ein Engel. Hastig fragte er ihn:

„Was verkaufen Sie, mein Herr?“

Der Engel antworte freundlich: “Alles, was Sie wollen“.

Der junge Mann begann aufzuzählen:
„Dann hätte ich gern das Ende der Kriege in der Welt, bessere Bedingungen für die Randgruppen der Gesellschaft, Beseitigung der Elendsviertel in Lateinamerika, Arbeit für die Arbeitslosen, mehr Gemeinschaft und Liebe in der Kirche und … und …“.

Da fiel ihm der Engel ins Wort:
„Entschuldigen Sie, junger Mann. Ich habe mich vermutlich nicht klar genug ausgedrückt. Wir verkaufen hier keine Früchte, wir verkaufen nur die Samen dafür“.

Autor unbekannt

plant

Der Fischer am Strand

Ein Fischer sitzt am Strand und blickt auf das Meer, nachdem er die Ernte seiner mühseligen Arbeit auf den Markt gebracht hat.

Warum er nicht einen Kredit aufnehme, fragt ihn ein Tourist.
Dann könne er einen Motor kaufen und das Doppelte fangen.
Das brächte ihm Geld
für einen Kutter und einen zweiten Mann ein.
Zweimal täglich auf Fang hieße das Vierfache verdienen!
Warum er eigentlich hier herumtrödele?
Auch ein dritter Kutter wäre zu beschaffen; das Meer könnte viel besser ausgenutzt werden, ein Stand auf dem Markt, Angestellte, ein Fischrestaurant, eine Konservenfabrik – dem Touristen leuchten dabei die Augen.

„Und dann?“ unterbricht ihn der Fischer.

„Dann haben Sie genügend Mitarbeiter und brauchen selbst gar nichts mehr zu tun. Dann können Sie den ganzen Tag hier sitzen und glücklich auf Ihr Meer hinausblicken!“

„Aber das tue ich doch jetzt schon“, sagt darauf der Fischer.

nach Heinrich Böll

fishing

Geburt

ich wurde nicht gefragt
bei meiner zeugung
und die mich zeugten
wurden auch nicht gefragt
bei ihrer zeugung
niemand wurde gefragt
ausser dem Einen

und der sagte
JA

ich wurde nicht gefragt
bei meiner geburt
und die mich gebar
wurde auch nicht gefragt
bei ihrer geburt
niemand wurde gefragt
ausser dem Einen

und der sagte
JA

Kurt Marti

baby

Lied vom donnernden Leben

Das kann doch nicht alles gewesen sein
Das bisschen Sonntag und Kinder-Schrein
Das muss doch noch irgendwo hin gehn
Hin gehn

Die Überstunden, das bisschen Kies
Und aabns inner Glotze das Paradies
Darin kann ich doch keinen Sinn sehn
Sinn sehn

Das kann doch nich alles gewesn sein
Da muss doch noch irgendwas kommen! Nein
Da muss doch noch Leebn ins Leebn
Eebn

He Kumpel, wo bleibt da im Ernst mein Spaß?
Nur Schaffn und Raffn und Hustn und Hass
Und dann noch den Löffel abgebn
Gebn

Das soll nun alles gewesen sein
Das bisschen Fußball und Führerschein
Das war nun das donnernde Leebn
Leebn

Ich will noch´n bisschen was Blaues sehn
Und will noch paar eckige Rundn drehn
Und dann erst den Löffel abgebn
Eebn

Wolf Biermann

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